Das Gespenst von Oternacum

Teilweise sind die Gebäude der Römervilla auch noch bewohnbar. Doch Bauer Fielst hält nichts von den Häusern der Römer mit ihren Steinmauern. In gebührender Entfernung von den Ruinen errichtet er einen Hof in althergebrachter Weise mit Holzpfosten, Weidengeflecht und Lehmverputz. Die Nachbarn warnen ihn, so nahe der Römervilla zu bauen. Die römischen Götter seien heimtückisch und grausam; er werde es zu spüren bekommen, wenn er den Frieden der Feld- und Hausgötter des Oternacum-Hofes störe. Bauer Fielst aber lacht die ängstlichen Nachbarn aus und sagt, die guten Felder hätten mehr Wert als ihi Geschwätz.

Ein Jahr vergeht. Es bringt für die Siedler schwere Arbeit, aber auch reichen Lohn auf den Feldern.

Heute vor einem Jahr ist Bauer Fielst in der neuen Heimat angekommen. Er steht in seinem Hof und streicht sich nachdenklich den langen Bart. Soeben hat ihm ein Knecht gemeldet, daß über Nacht in den Vorratsraum eingebrochen wurde. Mehrere Käse und ein Stück Dörrfleisch sind verschwunden. Hatten die Nachbarn doch nicht Unrecht? Treiben doch die Gespenster von Oternacum ihr Unwesen hier und fügen ihm Schaden zu? Er überdenkt noch einmal die Verluste seit seiner Ankunft.

Schon im Herbst des vergangenen Jahres waren einige Hausgeräte auf unerklärliche Weise verschwunden. Später wurde ein Schwein vermißt, das er mit den übrigen in den Wald zur Eichelmast getrieben hatte. Im Winter war aus dem Vorratsraum ein großer Steintopf mit Roggenkörnern, die er noch aus der alten Heimat mitgebracht hatte, gestohlen worden. Nach dem ersten Austrieb im Frühjahr war ein Kalb, das sich von der Herde entfernt hatte, nicht mehr gefunden worden. Und vor einigen Wochen hatte er feststellen müssen, daß über Nacht ein Teil des großen Roggenfeldes abgeerntet worden war. Bauer Fleist schüttelt den Kopf und denkt: Das geht nicht mit rechten Dingen zu!

Alwis, der vierzehnjährige Sohn des Fleist, bemerkt die schlechte Laune des Vaters und kennt den Grund. Er eilt zu seiner Schlafstatt im großen Raum des Wohnhauses. Dort steckt er das Sahs, ein kleines, einschneidiges Schwert, in den Gürtel und greift nach seinem Wurfspeer. Der Vater bemerkt ihn, als er über den Hof zum Tor schleichen will. „Wohin?" ruft der Alte und zieht die Stirne kraus. „Auf die Weide, zum Vieh!" antwortet Alwis eilfertig und bleibt stehen. Der Vater brummt etwas in seinen langen Bart, was Alwis als Zustimmung auffaßt. Schnell drückt er das knarrende Tor hinter sich zu.

Alwis schlägt den Weg zur Viehweide ein. Am Zaun bleibt er stehen und zählt die Tiere. Nachdem er sich überzeugt hat, daß kein Tier fehlt, läuft er weiter. Er überquert die Römerstraße und gelangt nach kurzer Wanderung zum Hof des Nachbarbauern Nath. Im Schatten des Palisadenzaunes bleibt er stehen und pfeift schrill auf zwei Fingern. Bald darauf hört er, wie der Torriegel zurückgeschoben wird. Langsam öffnet sich ein Torflügel, und aus dem Spalt lugt ein Bubenkopf hervor. Die flinken Augen erkennen Alwis, und schnell schiebt sich ein etwa gleichaltriger Junge aus der engen Öffnung. Es ist Germut, der Sohn des Bauern Nath. Beide Knaben stecken sofort ihre Köpfe zusammen und tuscheln. Schließlich nickt Germut eifrig und schlüpft zurück in den umfriedeten Hof. Kurze Zeit später erscheint er wieder und trägt ebenfalls seine Waffen. Beide Jungen wenden sich der Römerstraße zu, gehen auf dieser einige Zeit nach Süden und biegen dann nach Osten ab. Nun wird ihr Schritt vorsichtiger, ihr Sprechen zum Flüstern. Der Pfad ist lange nicht mehr benutzt worden, dichtes Gestrüpp hat ihn eingeengt. Nur langsam kommen sie vorwärts. Schließlich müssen sie durch das dichte Unkraut kriechen, Alwis voran. Dieser richtet sich plötzlich auf den Knien auf und winkt. Germut schiebt sich näher heran. Sie blicken auf eine Lichtung. Und inmitten der Lichtung liegen die Ruinen der Römervilla. Eine Weile verharren die beiden Jungen und beobachten die Umgebung. Als sich nichts rührt, schleichen sie näher an das Gemäuer heran. Ihre Blicke suchen eifrig den Boden ab. Schließlich entdecken sie Fußspuren, die sich bald mehren und in einen Pfad übergehen. Sie folgen dem Pfad, der an der Mauer entlangläuft, aber plötzlich an einer dunklen Öffnung endet. Die Jungen verständigen sich durch Blicke, dann springt Germut schnell auf die andere Seite der Maueröffnung. Beide verharren regungslos. Nichts rührt sich, nur der Wind raschelt in den Blättern des Waldes. Schließlich wird Alwis ungeduldig. Er bückt sich, ergreift einen der flachen Ziegelsteine, die auf der Erde herumliegen, und wirft ihn in die dunkle Höhle hinein. Ein heller Aufschlag und ein dumpfes Echo antworten. Voller Spannung lauschen die Jungen. Ihre Erwartung wird nicht enttäuscht. Sie hören langsame, schlurfende Schritte; dann erscheint in der Maueröffnung der Kopf eines kleinen, aber schon älteren Mannes. Seine Augen blinzeln, als er in das helle Licht des Tages blickt. Die beiden Jungen im Schatten der Mauer übersieht er.

Der Mann macht noch einige Schritte und steht nun außerhalb der Öffnung. Da läßt Alwis seinen Speer fallen und springt den Mann an. Er kann den Mann, der nicht größer ist als er selbst, am Halse fassen und zu Boden reißen. Inzwischen hat Germut den schmalen Ledergürtel von seinem Gewand gelöst, und ehe sich der Überf allene recht besinnen kann, sind ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Die Jungen zerren den Mann hoch; sie drohen ihm mit dem Kurzschwert und den Speeren. Der Mann blickt verstört um sich und will schreien. Als er aber das gezückte Schwert sieht, ergibt er sich in sein Schicksal und läßt sich widerstandslos abführen. Bauer Fielst ist nicht wenig erstaunt, als die Jungen mit dem Gefangenen vor ihm im Hofe stehen. Er blickt abwechselnd in die erhitzten Gesichter der Jungen und auf den ärmlich gekleideten Mann. Der schaut ihn nur kurz an und starrt dann finster zu Boden. — „Hier ist der Dieb, Vater!" sagt Alwis und schiebt den Gefangenen näher zum Hausherrn. Auf einen fragenden Blick des Vaters berichtet Alwis eifrig: „Als das Schwein gestohlen worden war, habe ich die Fährte des Diebes bis in die Nähe der Römervilla verfolgt. Und Germut hat vor einiger Zeit bemerkt, daß das Gemäuer noch bewohnt ist. Diesen Mann haben wir heute aus seinem Schlupfwinkel gelockt und festgenommen."

Bauer Fleist gebietet den Jungen, den Gefangenen freizugeben und das Hof tor zu schließen. Dann fragt er den Mann: „Wer bist du und woher kommst du?" Der Gefangene zuckt die Schulter und schüttelt den Kopf. Er scheint die Sprache der Franken nicht zu verstehen. Bauer Fleist fragt in der Sprache der Kelten, die er leidlich beherrscht. Da antwortet der Fremde mit leiser Stimme. Es stellt sich heraus, daß der Kelte früher auf dem Gutshof Oternacum wohnte und als Bauer tätig war. Als die Franken kamen, flüchtete er zuerst nach Westen, kam aber später wieder zurück. Er fand den Gutshof verlassen und zerstört. Aus Angst vor den Franken versteckte er sich mit seiner dreiköpfigen Familie in den Kellerräumen des Gutshauses. Sie lebten von den Früchten des Waldes und von der Jagd. Auf drängende Fragen des Bauern muß der Kelte zugeben, daß er, um die Seinen zu ernähren, gelegentlich Vieh und Getreide gestohlen hat.
Der Vater unterhält sich noch eine Weile mit dem Mann, der zusehends seine Angst verliert. Die Jungen sind erstaunt und etwas enttäuscht, als Bauer Fleist den Gefangenen schließlich mit Handschlag verabschiedet und in die Römervilla zurückgehen läßt. Der Hofherr erkennt ihren Mut an; die Jungen werden ganz rot im Gesicht vor Stolz. Aber dann mahnt er sie, ohne sein Wissen kein solches Abenteuer mehr zu unternehmen. Schließlich sagt er ihnen, daß der Kelte in Zukunft mit Weib und Kindern in der Nähe ein Haus bauen und einige Äcker für seinen eigenen Bedarf bewirtschaften wird. Er wird aber dem Hofherrn Untertan bleiben und für den Hof arbeiten. Bauer Fielst wird davon nicht wenig Nutzen haben; denn die Kelten waren gelehrige Schüler der Römer gewesen und verstanden von der Landwirtschaft mehr als die Franken. Die Kinder und Kindeskinder des Fielst errichteten ihre Häuser in der Nähe des Stammhofes. Sie nannten ihr Dorf nach dem ersten Siedler „Fleistheim". Im Laufe der Zeit entstand daraus der heutige Dorfname Fließem. Der Hof des Bauern Nath gab dem Dorfe Nattenheim den Namen.

(c) Hans Theis - 1964

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