Eine Weihnachtserzählung aus der Westeifel:
Die ersten Dezembertage des Jahres 1946 hatten strengen Frost gebracht. Ein kalter, klarer Himmel wölbte sich wochenlang über der Landschaft. Erst kurz vor Weihnachten zogen lichte Wolken auf, und Schnee kündigte sich an. Mit Sorge hielt Frau Hildegard M. nach dem Wetter Ausschau. Mit ihren drei Kindern, dem zwölfjährigen Peter, der zehnjährigen Christa und dem Nesthäkchen Marianne, bewohnte sie das mehrere Kilometer vom Dorf entfernte alte Forsthaus an einer wenig befahrenen Straße. Trat Schneefall ein, so konnten sie leicht vom Verkehr abgeschnitten werden. Ihr Mann, der Forstwart Martin M., war seit Jahren Soldat, und bisher hatten sie, obgleich die Kampfhandlungen längst abgeschlossen waren, noch kein Lebenszeichen von ihm gehört. Die letzte Nachricht war vor Jahresfrist aus dem Osten Deutschlands gekommen. Zu allem Überfluß überfiel Frau Hildegard kurz vor Weihnachten eine schwere Erkältung, so daß sie tagelang das Bett hüten mußte.
Nach dem bescheidenen Mittagsmahl am Vortage des Weihnachtsfestes schickte die Mutter die beiden älteren Kinder hinunter ins Dorf. Was ihnen die Lebensmittelkarten gestatteten, sollten sie im Geschäft einkaufen, vor allem aber den Weihnachtskuchen mitbringen, den der befreundete Bäckermeister ihnen zum Fest zusätzlich bescheren wollte. In Erwartung dieser guten Dinge eilten die Kinder frohen Herzens dem Dorfe zu. Die Lehrersfrau traf sie auf der Straße und lud sie zum Kaffee ein. Bei den gleichaltrigen Kindern des Bäckermeisters hielten sie sich ebenfalls noch eine Stunde auf. Nun drängte die Zeit, denn der trübe Wintertag verwandelte sich schnell in die graue Dämmerung des Abends.
Mit den Paketen beladen strebten die Kinder dem unweit entfernten Wald zu, um über einen kürzeren Waldweg das heimatliche Haus zu erreichen. Sie hatten kaum das Dorf verlassen, als die ersten Flocken fielen. Aus dem Flockenfall wurde ein dichtes Schneetreiben, da sie den Wald erreicht hatten. Die Nacht war vollends hereingebrochen. Dunkel und drohend wirkten die Baumriesen, und die Schneeflocken tanzten und wirbelten wie böse Märchengestalten um sie herum. Bald bedeckte ein Schneeteppich auch den Boden des lichten Waldes, und die bekannte Umgebung verwandelte sich in ein gleichförmiges fremdes Bild.
Die Kinder hatten sich an der Hand gefaßt und hasteten bergan. Der Waldweg war im weißen Einerlei nicht mehr zu unterscheiden; die Füße schleppten sich mühsam durch Schneeverwehungen. Plötzlich blieb Peter stehen. "Ich weiß nicht mehr, wo wir sind; wir haben uns verirrt", bekannte er kläglich. Christa begann zu weinen. Er tröstete sie, so gut er konnte. Sie wandten sich nach einer anderen Seite. Jedoch, wie sehr sie auch Umschau hielten, alles kam ihnen fremd und unheimlich vor. Schließlich blieben sie stehen und begannen zu rufen. Aber der mit Schluchzen vermischte Hilfeschrei schien vom Watteschleier des Schneefalls aufgesogen zu werden.
Eine Zeitlang hockten sie unter dem dichten Geäst einer breitrandigen Buche, die dem Schneefall etwas Einhalt gebot. Eine wohlige Müdigkeit überkam die Kinder. Aber Peter wußte, daß Einschlafen den sicheren Tod bedeutete. So hasteten und irrten sie weiter zwischen den hohen, gleichförmigen Bäumen umher. Christa war schließlich den Strapazen nicht länger gewachsen. Selbst das gütliche Zureden und Zerren des Bruders half nichts mehr; sie blieb, vom Weinen geschüttelt, am bemoosten Stamm eines Baumes hocken. Peter begann erneut zu rufen, aber kein Echo antwortete ihm.
Schon hatte er alle Hoffnung aufgegeben, als aus der Ferne, noch ganz schwach und undeutlich, eine Antwort zu kommen schien. Auch Christa beteiligte sich jetzt am Hilferuf, und bald klang die Antwort näher. Das Licht einer Taschenlampe geisterte zwischen den Bäumen umher. Dann stand plötzlich eine dunkle Gestalt vor ihnen. Bei einem kurzen Abirren des Lichtes erkannten sie nur undeutlich das bärtige Gesicht eines Mannes. Ein abgetragener Militärmantel hüllte die Gestalt ein. Die Kinder wunderten sich, daß sie keine Angst verspürten. Der Mann leuchtete ihnen ins Gesicht und fragte sie nach ihrer Wohnung. Als die Kinder geantwortet hatten, glaubten sie, trotz des dichten Bartwuchses im Gesicht des Mannes ein Lächeln erkennen zu können.
Frau Hildegard hatte daheim in der Wohnung voller Sorge das Bett verlassen. Schon wollte sie trotz des Fiebers hinunter in das Dorf, als vor der Haustüre Schnee von den Schuhen abgeklopft wurde. Die Türe öffnete sich. Frau Hildegard starrte voll ungläubigen Staunens auf das Bild, das sich ihr bot. Der Fremde lächelte, ließ die Kinder los und streckte die Hände aus. Da schrie Frau Hildegard auf und fiel dem bärtigen Mann - ihrem Mann - um den Hals. Die Kinder hatten bereits unterwegs erfahren, wer ihr Lebensretter war. Nun glänzten ihre Augen heller als die Kerzen am Christbaum, den die Mutter angezündet hatte. Da sie nun vereint vor der Krippe knieten, dankten alle aus übervollem Herzen für das Geschenk des Christabends. Und die Kinder waren fest davon überzeugt, daß das Christkind sie aus ihrer Not gerettet hatte. "Ein sehr bärtiges Christkind", wie der Vater später lachend meinte.
© Hans Theis, Neuerburg