Der Geißen-Krieg

Man schrieb das Jahr 1635. Die Schatten des großen Krieges fielen auch über das Eifelstädtchen am Fuße der Neuerburg. Schweden, Franzosen und Holländer quartierten sich nacheinander ein und ließen zum Dank den Schwarzen Tod zurück.  

Die Herrschaft Neuerburg war ausgeplündert, die Äcker lagen verwüstet, die Ställe waren leer. In dieser Not verlegten sich die Bürger des Städtchens auf eigene Viehaltung, und es dauerte nicht lange, so war die Geiß fast in jedem Neuerburger Haushalt daheim. Es schien, als wollte die Natur die Verödung in Stall und Feld ausgleichen, denn die Tiere vermehrten sich mit solcher Fruchtbarkeit, daß in dem genannten Jahre mehr als 200 Ziegen im Städtchen gezählt wurden.

Mit lustigem Gemecker sprangen die Geißen auf den saftigen Talwiesen, kletterten an den felsigen Berghängen, naschten leider auch in den Gärten und Feldern und machten nicht einmal vor dem Eigentum des Grafen Franz Hermann von Manderscheid-Kail, des damaligen Herrn der Neuerburg halt.

Den Burghauptmann Peter Heimdal verdroß das lustig-freche Treiben der Geißen schon lange. Als die Klagen des herrschaftlichen Gärtners nicht aufhören wollten, berichtete er seinem auf der Stammburg in Manderscheid weilenden Herrn in einem umfangreichen Scriptum von der zunehmenden Geißeninvasion und ihren schädlichen Folgen.

Der Graf freilich hatte in dieser Kriegszeit andere und schlimmere Sorgen. So gab er ohne lange Überlegung den Befehl, die auf frischer Tat ertappten vierbeinigen Diebe kurzerhand zu inhaftieren. Zu ihrem eigenen Verdruß, zum Ärger des Burghauptmanns und zum Gespött der Neuerburger sahen sich die Offizianten (Polizei) mit einer sehr undankbaren Aufgabe betraut. Sie kostete ihnen weit mehr Schweiß als das Fangen zweibeiniger Diebe.

Sobald sich die braunen Lederpanzer und die federgeschmückten Barette blicken ließen, nahmen die Geißen mit lustigen Sprüngen und spöttischem Gemecker reißaus. Zwar gelang es nach zwei Wochen angestrengten Dienstes, einige Gesetzesübertreter zu fassen, doch blieb nach kurzer Haftzeit keine andere Wahl, als die Delinquenten aus Futtermangel wieder zu entlassen. Das aber schien sowohl für die Geißen als auch für ihre Besitzer einem Freibrief gleichzukommen. Und ein Jahr später mußte der bekümmerte Burghauptmann eine reichhaltige Liste von Eigentumsdelikten, begangen durch diebische Ziegen, an seinen Herrn schicken.
Heftig tobte Graf Franz, und derart stürmisch war seine Rede, daß die Hand des Schreibgehilfen bei der Abfassung des Antwortbriefes zitterte und krausliche Zeichen nebst einigen Tintenklecksen aufs Papier malte. Soviel aber konnte der Burghauptmann unmißverständlich aus dem Brief herauslesen, daß er nunmehr Order habe, für die Abschaffung aller Geißen in Neuerburg innerhalb eines Monates Sorge zu tragen.

Die bösen Ahnungen, die ihn beschlichen, als er den Ausrufer mit der Hiobsbotschaft ins Städtchen schickte, sollten ihn nicht trügen. Bereits nach kurzer Zeit kehrte der Offiziant in größter Eile, schweißtriefend und in sehr ramponiertem Zustand zurück. Hatten doch die erbosten Bürger ihre angriffslustigsten Ziegenböcke freigelassen, als die scheppernde Schelle das Todesurteil für deren Gefolgschaft verkündete.

Es wurde Burghauptmann Heimdal klar, daß er mit seiner aus sechs Offizianten bestehenden Streitmacht diesen Krieg nicht gewinnen konnte; so bat er seinen Herrn um Verstärkung. Diesen Waffenstillstand nützen die Bürger aus. Sie schickten eine geharnischte Protestschrift an seine hochfürstlichen Gnaden, den Herrn von Chimai, Gouverneur von Luxemburg. Darin verklagten sie den Grafen wegen Verletzung der Bürger- und Stadtfreiheiten.

Sie hatten insofern Erfolg, als nun die Sache einem Gerichtshof übergeben wurde. Dem Grafen wurde vorläufig ein weiteres Einschreiten untersagt. In Neuerburg aber ging der "kalte Krieg" mit unverminderter Heftigkeit weiter. Die Bürger trieben von nun an vielfach mit Bedacht ihre Geißen in die herrschaftlichen Wälder und Gärten. Der Burghauptmann antwortete darauf nicht minder heimtückisch, indem er Fallen und Fanggruben anlegen ließ.

Von 1635 bis 1692, also fast ein ganzes Menschenalter, dauerte der Neuerburger Geißenkrieg. Eine gerichtliche Entscheidung in Luxemburg wurde nie gefällt. Die Geschichte aber traf ihre Entscheidung auch in Sachen Geißenkrieg, als am 3. Mai 1692 auf Befehl Ludwigs XIV. der Gouverneur Harcourt die Neuerburg sprengen und die Bastionen zerstören ließ.

Weite Teile der Burg verfielen, und die Ritter wurden vergessen, die Geißen aber weideten noch lange Zeit am Schloßberg.

© 1966 - Hans Theis, Neuerburg