Das Gespenst in Ketten

Es galt schon als geheiligte Tradition, daß es im Scholteshaus in O. nicht geheuer war. Der Hausherr Kläs pflegte diese Anschauung sorgfältig, obgleich das 20. Jahrhundert mit seinem Anspruch auf besondere Aufgeklärtheit gerade begonnen hatte.

 

Er wußte seine Hauschronik mit manchen Spukgeschichten zu bereichern und die Gespenster als vertraute Hausgenossen darzustellen. Nun verdroß es ihn schon lange, daß sein Hofstaat, zu dessen Mitgliedern er, da er ein gastfreies Haus zu führen gewohnt war, an den Abenden nicht nur die eigenen Knechte und Mägde, sondern auch deren Verehrerinnen und Verehrer zählen durfte, seinen gruseligen Erzählungen nicht mehr die rechte Ehrfurcht entgegenbrachte. Wenn an den spannendsten Punkten der Erzählungen ein angstvolles Seufzen zu erwarten war, konnte man des öfteren ein nur mühsam unterdrücktes Kichern vernehmen. Diesem Übelstand sollte eines Tages in einer Weise abgeholfen werden, die Gläubige und Ungläubige gleich stark in Mitleidenschaft zog.

 

Kläs hatte den Schneider Pitter aus N. zu Gast, der alljährlich einmal in seinem Haus aufzutauchen pflegte, um die verschlissenen Buxen und Kittel zu reparieren und auch gelegentlich einen neuen Sonntagsstaat anzufertigen. Pitters Wortkargheit war bei seinen Kunden berühmt. Ebenso bekannt war aber auch, daß er bisweilen in trockenen, fast mürrischen Redewendungen Münchhausiaden zum besten gab, für die er freilich immer wieder Gutgläubige fand. Und obgleich man wußte, daß er es trotz seiner stets ernsten Miene faustdick hinter den Ohren hatte, gelang es ihm immer wieder, durch völlig überraschende Schachzüge seine Mitmenschen zu foppen. Den zweiten Abend, den der Schneider im Spukhaus verbrachte und der wieder eine Erwählerrunde des Kläs erwarten ließ, bereitete Pitter gründlich vor. Am Nachmittag schleppte er zu einer Stunde, da sich Bauer und Gesinde auf dem Feld befanden, die schwere Wiesbaumkette von der Scheune auf den Dachboden des Hauses und breitete sie hier sorgsam aus. An das eine Ende der Kette befestigte er einen starken Bindfaden und leitete ihn am Holzsims der ohne Wendung steil emporsteigenden Treppe entlang. Oberhalb der ersten Treppenstufen verschwand der Faden in einem Loch, das zum unteren, offenen Teil des Wandschrankes in der Wohnstube führte. Vor dem "Takenschaaf" aber hatte Pitter seinen angestammten Platz.


Das Erzählertalent des Kläs drohte erst gegen Mitternacht zu erlahmen. Pitter schien neben seiner Nähmaschine in der dunklen Ecke des Zimmers eingeschlafen zu sein. Um so verwunderlicher war es, als der Schneider plötzlich seinen Mund auftat und den Hausherrn aufforderte doch einmal die Geschichte von dem kettentragenden Hausgespenst zu erzählen. Kläs fühlte sich von der unerwarteten Aufmerksamkeit des Schneiders ebenso geehrt wie angefeuert und verbreitete sich in drastischen Schilderungen über den ungeratenen Knecht eines Vorfahren, der des öfteren Geld beim Viehverkauf veruntreut hatte und nun zur Geisterstunde im Haus einherwandeln muß. Indessen tastete Pitter nach dem Faden hinter seinem Rücken, fand ihn und zog, ohne seine Stellung zu verändern, ruckweise am Seilende. Ein dumpfes Scharren und feines Klirren über der Stubendecke ließ plötzlich die Versammlung aufhorchen. Kläs verlor den Faden der sorgsam gesponnenen Erzählung und begann zu stottern, die Mägde rutschten näher zu ihren Beschützern, und diese vergaßen an den Pfeifen zu ziehen. Als jedoch alles ruhig blieb, nahm Kläs wieder seine Erzählung auf, schraubte allerdings die Lautstärke bedeutend herunter. Mit halbem Ohr horchten Erzähler und Zuhörer zur Decke.

 

Nach einigen Minuten bemühte sich Pitter, die Kette auf dem Dachboden wieder in Bewegung zu bringen. Sie schien sich jedoch irgendwo verhakt zu haben und blieb zarten Ermahnungen mit dem Seil nicht mehr zugänglich. Pitter, der schließlich um den Erfolg seines Spaßes fürchtete, zog plötzlich so energisch am Seil, daß sich nicht nur die Kette wieder befreite, sondern mit entsetzlichem Poltern und Klirren die langgezogene Treppe herunterdonnerte. Der Länge der Kette angemessen, schien der infernalische Lärm kein Ende zu nehmen. Die Stube befand sich urplötzlich in Aufruhr. Stühle polterten zu Boden, Bierkrüge zerbrachen scheppernd auf den Dielen, die Mädchen schrien, und da der Rückzug durch den Hausgang wegen der dort mündenden Treppe versperrt war, kündeten alsbald klirrende Fensterscheiben, daß man einen Notausgang gefunden hatte. Pitter, der bei aller Freude am Jux diesen Erfolg nicht erwartet hatte, brach in ein unbändiges Gelächter aus. Dies erschien jedoch den Flüchtenden, unter denen sich auch der tapfere und gespenstergewohnte Hausherr befand, wie das hohnvolle Gebrüll des Leibhaftigen selbst. Denn Pitters Lächeln war schon sparsam, ein Gelächter hatte noch niemand von ihm gehört.

 

In der Frühe des nächsten Tages zahlte Kläs mit verkniffenem Gesicht dem Schneider den Lohn aus und kündigte ihm Kundschaft und Freundschaft auf. Kette und Seil hatten ihm noch am Abend, nach sorgsamer Erkundung des Geländes, den Urheber des Schabernacks verraten. Trotzdem wußte Kläs diese Begebenheit geschickt für die Zukunft in seine spukerfüllte Hauschronik einzubauen. Und da der Schneider schwieg, diente sie ihm stets als unumstößlicher Beweis für das Vorhandensein des Hausgespenstes. Der Schneider hat in seinen alten Tagen, da er des Schabernacks müde und zugleich redseliger ward, den Enkeln diese Geschichte erzählt. Damals glaubte man in O. noch immer an das Hausgespenst.

 

(c) 1966 - Hans Theis, Neuerburg